Über die Kretschmannisierung der Grünen
„Was sind die Grünen?“ Kaum eine Frage kann ein so breites Spektrum völlig unterschiedlicher Reaktionen hervorrufen. Von „grün lackierten Konservativen“ und „bürgerlichen Linksliberalen mit chronischen Bauchschmerzen“ bis hin zu „linksextremen Volksverrätern“ oder gar „totalitären Ökofaschisten“ reicht die Bandbreite der Zuschreibungen. Schaut man sich dagegen die Programmatik der Partei an, ergibt sich ein – auf den ersten Blick – klareres Bild. So bilanziert der Parteienforscher Dr. Deniz Anan (selbst Mitglied der Grünen) in seiner Analyse des aktuell gültigen Grundsatzprogramms, das 2020 beschlossen wurde: „Ob man die Grünen […] als zwar linke und ökologische, aber auch liberale [sic!], oder hingegen im Spektrum des demokratischen Sozialismus verortet, hängt mit Blick auf die zahlreichen geforderten staatlichen Eingriffe ins Wirtschaftsleben letztlich sehr stark von der Liberalismus-Konzeption ab: Fasst man diese weit, so zählen die heutigen Grünen programmatisch zum ,Ökosozialliberalismus‘, fasst man sie eng, so wird man sie zum freiheitlichen Segment des ,Ökosozialismus‘ zählen.“ Eine Umfrage vom Januar dieses Jahres zeigt, dass auch die Wahlbevölkerung die Grünen als Mitte-links-Partei irgendwo zwischen der Linken und der SPD verortet.
Auf einer Linie mit der Merkel-CDU
Warum schreibe ich als linker Grüner dann von einer „Kretschmannisierung“ der Grünen? Sowohl die Programmatik als auch die Wahrnehmung meiner Partei müssten dann doch genau nach meinem Geschmack sein. So einfach ist es leider nicht. Denn dass der liberale, konservative oder sogar rechtsradikale Teil der Wähler*innen die Grünen für links hält, ist bei der derzeitigen Diskursverschiebung nach rechts wenig verwunderlich und kann daher getrost ignoriert werden. Viele linke Wähler*innen hingegen ordnen die Partei wohl eher auf einer Linie mit der Merkel-CDU ein und sind somit für uns (aktuell) nicht zu erreichen. Dies hat vor allem mit einer (Selbst-)Marginalisierung des linken Flügels zu tun, der seit Jahren keine profilierte Figur hervorgebracht hat, die sich im innerparteilichen Wettbewerb durchsetzen konnte. Bei der Bundestagswahl 2013 gab es mit Jürgen Trittin das letzte Mal einen linken Spitzenkandidaten auf Bundesebene, 2017 und 2021 traten jeweils zwei Realos an.
Visionen an die Grüne Jugend outgesourct
Doch das Problem liegt tiefer: Während ein Winfried Kretschmann – als einziger grüner Ministerpräsident eine einflussreiche Persönlichkeit in der Partei – kein Problem damit hat, seine Vision einer konservativ-ökologischen Politik in jedes Mikrofon des Landes zu posaunen, sucht man Ähnliches auf der linken Seite vergeblich. Aus Angst, nicht mehr für alle Teile der Partei und der Gesellschaft anschlussfähig zu sein und bei der nächsten schwarz-grünen Koalition ohne Regierungsverantwortung dazustehen, hat man die Formulierung langfristiger politischer Visionen komplett an die Grüne Jugend outgesourct.
Paktieren mit den Realos
Deren Protagonist*innen verlassen dann nach Überschreiten der Altersgrenze entweder desillusioniert die Partei in Richtung linkerer Gruppierungen (wie der ehemalige GJ-Sprecher Georg Kurz) oder passen sich dem stromlinienförmigen Realo-Mainstream der Grünen an und streben nach höheren Ämtern. Das geht sogar so weit, dass eine einstige links-grüne Hoffnungsträgerin wie die ehemalige GJ-Sprecherin Ricarda Lang nach ihrem Aufstieg zur Parteichefin plötzlich mit Ober-Realo Kretschmann einen gemeinsamen Gastbeitrag im Tagesspiegel veröffentlicht, in dem mehr Abschiebungen gefordert werden. Immerhin hat der Parteilinke Toni Hofreiter in dieser Frage mehrfach öffentlich eine gegenteilige Meinung vertreten.
Auf Landesebene kaum wahrzunehmen
Doch während man auf Bundesebene noch vage erahnen kann, dass es einige Menschen gibt, die sich wenigstens ansatzweise für linke Politik interessieren (wie eben Hofreiter oder Lisa Paus), wird es auf Landesebene immer schwieriger, überhaupt wahrzunehmen, ob die Grünen in der jeweiligen Regierung sitzen oder nicht. Auch das hat meines Erachtens mit der Realo-Dominanz zu tun, die das „geräuschlose“ Regieren zum Selbstzweck gemacht hat. Selbst beim ur-grünen Projekt der Cannabis-Legalisierung haben sich reihenweise grüne Landesminister*innen zunächst quer gestellt, bis der öffentliche Druck schließlich zu groß wurde. Ein weiterer Beleg für diese These ist die jüngste Ankündigung der Preiserhöhung des Deutschlandtickets durch den nordrhein-westfälischen Verkehrsminister Oliver Krischer in seiner Funktion als Vorsitzender der Verkehrsminister*innenkonferenz. Weder er noch seine drei Kolleg*innen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hamburg ließen erkennen, dass sie irgendwelche Anstrengungen unternommen hätten, Landesmittel aufzubringen, um eine Erhöhung zu vermeiden.
„Radikal ist das neue realistisch“
Ein prominenter Grüner hat vor nicht allzu langer Zeit einmal gesagt: „Radikal ist das neue realistisch“. Tatsächlich ist es in Zeiten des weltweiten Rechtsrucks umso notwendiger, die Probleme an der Wurzel zu packen und nicht nur an den Symptomen herumzudoktern. Was das konkret bedeutet, haben die GJ-Sprecherinnen Katharina Stolla und Svenja Appuhn kürzlich formuliert: Superreiche stärker besteuern, Energie-, Wasser- und Gesundheitsversorgung in die öffentliche Hand überführen, große Wohnungskonzerne enteignen. Das endgültige Ziel: ein demokratischer Sozialismus. Ob Habeck diese Vision vor Augen hatte, als er sich nach mehr Radikalität sehnte? Nein, sicher nicht. Aber warum sollten wir darauf Rücksicht nehmen, was ein Realo denkt?
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