Eine Entgegnung auf Ole Nymoens Artikel zur Wehrpflicht in der „ZEIT“

Zwischen mir und dem Wehrdienst lagen nur wenige Jahre – ich bin 1995 geboren, war also gerade 16, als Guttenberg 2011 die Wehrpflicht aussetzte. Ich weiß noch genau, dass mir damals ein riesiger Stein vom Herzen gefallen ist. Denn nichts an der Vorstellung, mich nach dem Abitur zwischen Seniorenheim und Schützengraben entscheiden zu müssen, fand ich auch nur ansatzweise attraktiv. Und so ging es wahrscheinlich vielen in meinem Alter. Auch heute noch finde ich es ziemlich befremdlich, wenn sich ein Staat anmaßt, über das Leben von Menschen zu verfügen, die gerade die Schule abgeschlossen haben. Das oft zitierte Argument, der „Dienst an der Gesellschaft“ wirke sich positiv auf die Entwicklung der nachwachsenden Generationen aus, halte ich für Unsinn. Im Umkehrschluss müsste der Teil der Bevölkerung, der Zivil- oder Wehrdienst geleistet hat, deutlich gemeinwohlorientierter handeln als die nach 1992 Geborenen. Nach meiner Wahrnehmung ist eher das Gegenteil der Fall. Hier unterscheidet sich meine Meinung also nicht wesentlich von dem, was Ole Nymoen in seinem Gastbeitrag in der „ZEIT“ geschrieben hat.

„Für fast gar nichts“ zu kämpfen bereit

Ole belässt es aber nicht bei einer Kritik an dieser unsäglichen Debatte und ihrer verlogenen Protagonist*innen, sondern schreibt: „Wenn ich mir nun die Frage stelle, wofür ich zu kämpfen bereit wäre, dann muss ich ehrlich sein: für fast gar nichts. Und ganz sicher nicht für ,ein Land‘, nicht für diesen Staat, und auch nicht für Europa.“ Um dann weiter zu argumentieren: „Wenn junge Männer (und vielleicht auch bald Frauen) für eine ,Sicherheit‘, die angeblich die ihre ist, sterben müssen – dann kann es sich offenkundig nicht wirklich um den Schutz ihres Lebens handeln, der als Zweck verfolgt wird, wenn Staaten angreifen oder sich verteidigen. Nur, was bedeutet ,Sicherheit‘ dann? Wohl vor allem eines: Schutz vor Fremdherrschaft. Also im Umkehrschluss: Schutz der eigenen Herrschaft, mit der man sich dann auch noch in eins zu setzen hat.“

Auch ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als in irgendeinem Unterstand an der Front zu sitzen und jede Sekunde Todesangst zu haben. Krieg ist scheiße. Und ja, es gibt viele bewaffnete Konflikte, bei denen es stimmt, was Ole schreibt: „Wer als Soldat auf die Schlachtfelder zieht, der erkämpft dort nicht seine Sicherheit – diese ist de facto in jedem Moment existenziell bedroht, in dem es Granaten und Kugeln hagelt. Stattdessen wird gekämpft für das, was die eigene Herrschaft als ihre Sicherheit definiert.“

Das eigentliche Thema: die Ukraine

Doch um solche komplexen Konflikte – wie etwa in Libyen oder im Sudan – geht es ihm nicht, wie im Verlauf des Artikels deutlich wird: „Im Krieg aber erleben wir genau diese Ineinssetzung [von Staat und Bürger*innen] tagtäglich. Etwa wenn es immer wieder heißt, dass ,die Ukrainer kämpfen wollen‘. Bei solchen Formulierungen entsteht schnell der Eindruck, es handele sich bei einem Staatsvolk um eine von jedem Abweichlertum befreite Interessengemeinschaft mit einem einzigen Zweck – der Souveränität der Herrschaft.“ Das eigentliche Thema seines „Einspruchs“ ist also nicht die Debatte um die Wehrpflicht im von befreundeten Staaten umgebenen friedlichen Deutschland, sondern der russische Angriffskrieg auf die Ukraine.

Und es stimmt ja auch: Um die eigene Souveränität zu schützen, zwingt der ukrainische Staat seine männlichen Bürger, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ich bin ehrlich: Ich kann jeden Menschen verstehen, der das nicht will und davor ins Ausland flieht. Wie ich selbst in einer solchen Situation reagieren würde, kann ich auch nur schwer einschätzen.

Oles Gleichsetzung von Demokratien und Diktaturen

Aber Ole geht noch weiter: Er tut so, als sei es völlig egal, ob man jetzt unter russischer oder ukrainischer Herrschaft lebe: „Dabei ist es eigentlich selbstverständlich, dass in jedem Krieg ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung lieber unter fremder Herrschaft leben als im Kampf sterben will.“ Klingt logisch: Wer würde sich bei diesen zwei Alternativen schon für den Tod entscheiden? Und genau das macht Oles Aussage so perfide. Denn auch unter russischer (Fremd-)Herrschaft werden jeden Tag Menschen unterdrückt, gefoltert, vergewaltigt und eben auch getötet – ganz ohne Kampfhandlungen. Auch darüber hinaus macht der russische Staat jedem, der sich nicht unterwirft, das Leben zur Hölle. In bester Wagenknecht-Manier tut Ole so, als sei es egal, ob man für eine (wenn auch unvollkommene) Demokratie oder für eine Diktatur kämpft. Ist es aber nicht!

Ukrainische Linke sehen das anders

Bei solchen Meinungsäußerungen verwundert es kaum, dass viele ukrainische und (ebenfalls vom Aggressorstaat Russland bedrohte) osteuropäische Linke mit großem Unverständnis auf ihre deutschen Genoss*innen blicken, die – trotz aller inneren Bedrohung durch Rechtsextremist*innen – in einer immer noch sehr freiheitlichen Demokratie leben. Der ukrainische Journalist Sergey Movchan von der antiautoritären Freiwilligentruppe „Solidarity Collective“ erklärte bei „nd-aktuell“, warum selbst Anarchist*innen den Kampf gegen Russland unterstützen: „Weil wir keine andere Möglichkeit haben. Das heißt nicht, jeder soll eine Waffe tragen, aber man muss gegen diese Invasion sein. Jeder sollte alles tun, um sie aufzuhalten. Unter russischer Besatzung werden alle Aktivist*innen unterdrückt. Man kann die Freiheit, die wir in der Ukraine genießen, nicht mit Russland vergleichen. Selbst jetzt sehe ich mich als Antimilitaristen. Ich bin nicht glücklich über die Militarisierungsprozesse in der Ukraine. Ich denke, in der Zukunft werden wir eine globale pazifistische Bewegung brauchen. Aber wenn ein Krieg herrscht, muss man das realisieren. Wenn du das Opfer und nicht der Aggressor bist, kann dir niemand sagen: Versuch nicht, zurückzuschlagen.“

Ein Leben in Unfreiheit und Unterdrückung

Movchan weiß: Unter russischer Herrschaft landet man mit einer staatskritischen Haltung sicher nicht in einem Leitmedium wie der „ZEIT“, sondern im Straflager. Nicht jeder, der sich auch mit Waffengewalt dagegen wehren will, in einer dystopischen faschistoiden bis faschistischen Diktatur zu leben, hat ein „nationalistische[s] Weltbild“, wie Ole mehr oder weniger unterstellt. Ganz im Gegenteil.

Aus der Zeit gefallen

Doch zum Glück gibt es auch in Deutschland vernünftige linke Stimmen, die sich nicht in vulgärpazifistischen Meinungsartikeln und Täter-Opfer-Gleichsetzungen ergehen, sondern einen klaren Blick auf die Situation haben. Wie beispielsweise die Journalistin Anastasia Tikhomirova, die schon 2023 in der „taz“ schrieb: „So verkennen deutsche und andere westliche Pazifist:innen und Antiimperialist:innen den Imperialismus in Russlands Handeln. Ihre Analyse basiert oft auf veralteten, vulgärmarxistischen Imperialismustheorien. […] Gewiss trifft Karl Liebknechts Losung ,der Hauptfeind steht im eigenen Land‘ auf die russische Gesellschaft zu. Doch ertönt diese in linken Kontexten vor allem in Bezug auf die Ukraine und verhindert so das Benennen der Kriegsverantwortlichen. Ganz sicher ist nicht Wolodimir Selenski der Hauptfeind des ukrainischen Volkes, sondern das imperiale Russland und Wladimir Putin. Die Symmetrien zwischen imperialistischen Mächten aus der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg, aus der die Losung stammt, existiert heute so nicht mehr.“


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